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Alptraum Pflege­notstand – wer heute­ um was zu­ betteln hat

16. Dez 2019
Gita Neumann, Dipl.-Psych. Redakteurin des Newsletters Patientenverfügung gita.neumann@humanismus.de

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn kämpft verzweifelt – auch weltweit werbend und „bettelnd“ – um Pflegekräfte für Deutschland. Heimbewohner_innen betteln darum, begleitet auf die Toilette gehen zu dürfen. Pflegenotstand in Deutschland: in den siebziger Jahren, immer noch, schon wieder, absehbar ohne Ende.  

Schon in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts waren südkoreanische Krankenschwestern und -pflegehelferinnen für deutsche Krankenhäuser angeworben worden. Deutsch, vor allem fachspezifisches, wurde während der Arbeit gelernt. Trotzdem erschien es rückblickend als eine Erfolgsgeschichte, die wohl vor allem der belastungsfähigen Resilienz der pflegenden Koreanerinnen geschuldet war. Heute gilt Deutschland längst nicht mehr als die Nummer 1 unter auswanderungswilligen Krankenschwestern. Es hat sich herumgesprochen, wie hart die Bedingungen einer hierzulande maximal gewinnorientierten Krankenhaus- und Pflegeheim-Wirtschaft sind.

Seit das Thema kurz vor der letzten Bundestagswahl von der Politik nicht länger unter der Decke gehalten werden konnte, gibt es diesen offiziellen Notstandsalarm. Kaum jemand wolle den Job mehr machen, sagt die Altenpflegerin Eva Ohlerth. Darüber hat sie das Buch Alptraum Pflegeheim geschrieben. Darin heißt es: „Angst, Einsamkeit, Vernachlässigung und Misshandlung – in vielen deutschen Pflegheimen herrschen furchtbare Zustände. Senioren werden mit Medikamenten ruhiggestellt, in Windeln gelegt oder per Schlauch durch die Bauchdecke ernährt um als problem- und willenlose Verfügungsmasse durch den Heimbetrieb geschleust zu werden. So wird Zeit gespart und der Gewinn für die Heimbetreiber maximiert.“

Erschütternder Bedarf, Niedriglohn, Dauerstress

In deutschen Pflegeheimen leben laut Statistischem Bundesamt knapp eine Million Menschen – und es werden mehr. Sie gehören zu den 3,4 Millionen Menschen in diesem Land, die pflegebedürftig und auf Hilfe angewiesen sind. Angehörige, eine_r oder einige der circa 750.000 Pfleger_innen kümmern sich täglich um sie. Dabei konnten 2018  fast 40.000 Stellen in Kliniken und Pflegeeinrichtungen nicht besetzt werden.

Mit Amtsantritt von Gesundheitsminister Jens Spahn trat auch in der Politik ein völlig neues Problembewusstsein ein. Ihm war bewusst, „dass in der Pflege ein ganzer Berufsstand in der Krise steckt. […] Ich will die fatale Spirale durchbrechen, die es in der Pflege derzeit gibt: Die Belastung steigt, Kollegen steigen frustriert oder krank aus dem Beruf aus, die Belastung steigt noch weiter. Wir müssen gegensteuern“, so der Minister in einem Interview, das auf der Seite des Bundesgesundheitsministeriums veröffentlicht wurde.

Auch mit Hinweisen auf die menschliche und pflegerische Qualität der – um monatlich 5.000 Euro wesentlich besser und zudem vollfinanzierten – Hospizaufenthalte für verbleibende Lebensmonate konnte das Pflegeproblem für letzte Lebensjahre aus dem Aufmerksamkeitsfokus verdrängt werden.

Dramatische Zustände – auch auf Kinderstationen

Spahn versucht derzeit verzweifelt, Pflegekräfte im Ausland anzuwerben. Die Hoffnung, dass potenziell Angeworbene auch so bescheiden sind, sich den teils unzumutbaren Arbeitsbedingungen zu unterwerfen, scheint jedoch nicht aufzugehen. Der Minister war im Kosovo, in Mexiko und „bettelte“ auch auf den Philippinen um mögliche Kooperationsvereinbarungen.

Auch auf Kinderstationen mangelt es hierzulande dramatisch an Pflegepersonal. Von Deutschlands größter Kinder-Intensivstation, angegliedert an die medizinischen Hochschule Hannover, musste in diesem Jahr sogar die Aufnahme von 300 – teils lebensbedrohlich – schwer erkrankten Kindern abgelehnt werden, weil die kleinen Patient_innen dort nicht mehr hinreichend betreut werden können. Ärzt_innen und Technikausstattung sind vorhanden – es fehlen die Pflegenden.

Vor allem in der Altenpflege ist die Bezahlung weiterhin so miserabel, als hätten die Betreiber den Ernst der Lage – letztendlich auch ihrer eigenen – immer noch nicht erkannt.  Denn weiterhin müssen privatwirtschaftliche Profite oder auch gemeinnützige „Overhead-Kosten“ vom Pflegepersonal erwirtschaftet werden. Gleichzeitig stellt sich das Problem, dass überfällige Lohnerhöhungen die Pflegekosten explodieren lassen, was dann vermutlich hauptsächlich an den Pflegebedürftigen und ihren Familien hängen bleiben würde. Denn anders als in den überaus privilegierten Hospizen für bald Sterbende, wo nicht ein einziger Euro von den Bewohner_innen zu leisten ist, gibt es für die stationären Pflegekosten in den Heimen nur eine Teilkaskoversicherung mit erheblichen Zuzahlungen.

„Machen Sie doch in Ihre Windel“

Im Sommer 2018 versprach Spahn noch vollmundig 13.000 zusätzliche Stellen für die Heime. Doch alle Ideen, auch die von anderen Minister_innen in einer „konzertierten Aktion“ für bessere Aus- und Weiterbildung von Pflegekräften, haben sich als wirkungslos erwiesen. Die Politik macht zwar Druck auch hinsichtlich angemessener Löhne, doch kann sie diese der Branche nicht vorschreiben. Ihre einzigen Hebel sind allgemeinverbindliche Tarifverträge oder ein deutlich angehobener Pflege-Mindestlohn.

Die Stellen lassen sich einfach nicht besetzen. Der Markt ist leer gefegt, frustrierte Aussteiger_innen lassen sich auch nicht mit Prämien zurückholen – vor allem weil der Beruf so unattraktiv geworden ist. Inzwischen, so bestätigt der Gesundheitsminister, gibt es hierzulande 50.000 bis sogar 80.000 offene Pflegestellen.

Älteren Menschen in Pflegeheimen wird durch den Pflegenotstand systematisch ihre Würde genommen. Wie überfordertes Pflegepersonal mit alten Menschen umgeht und was getan werden muss, damit sich etwas ändert, erzählt Eva Ohlerth im Video. Jahrelang wurden zur Profitmaximierung auch ungelernte Hilfskräfte eingestellt, die weder fachlich noch menschlich die Voraussetzungen für diesen anspruchsvollen Beruf erfüllen. Ohlerth fordert ihre ehemaligen Kolleg_innen auf, die schlimmen Zustände öffentlich machen und zu sagen, dass ihre Arbeit nicht mehr zu schaffen ist. Auf die Frage, welcher Skandal in der Pflege der größte ist, kann sie sich gar nicht auf einen bestimmten festlegen. „Für mich ist es skandalös, wenn alte Menschen nicht genug zu essen und zu trinken bekommen. Und wenn sie noch nicht mal ihre Notdurft machen können, wenn man ihnen sagt: ‚Machen Sie doch in Ihre Windel, dazu ist sie da‘“.