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“Da kann ich mich doch auf dich verlassen, Mama?”

10. Nov 2008

Es war wenige Wochen bevor Alexander Nicht, 20, von einem Auto angefahren und aufgrund seiner Kopfverletzungen für den Rest seines Lebens ins Wachkoma fiel: Im Freundeskreis war jemand mit dem Motorrad verunglückt. Im Gespräch darüber nahm er seiner Mutter das Versprechen ab, wenn er selbst einmal zu einem Menschen ohne Selbst, ohne Möglichkeit Kontakt aufzunehmen und sich selbstständig zu bewegen werden sollte. Dann wolle er auf keinen Fall künstlich am Leben erhalten werden. Seine Mutter solle dann dafür sorgen, dass er sterben könne: “Da kann ich mich doch auf dich verlassen, Mama?”

Vier Jahre später: Ihr Sohn macht jetzt nicht den Eindruck, als leide er. Die Mutter Marie-Luise Nicht kann ihn massieren und streicheln, in den Rollstuhl packen, sich ein Leben mit ihm in der gemeinsamen Zwei-Zimmer-Wohnung eigentlich gut vorstellen. Sie pflegt und umsorgt ihren Sohn gern. Es ist fast wie in der schönen Zeit, als er ein Baby war. Die Versicherung desjenigen, der den Unfall mit ihrem Sohn verschuldet hat, zahlt sehr großzügig. Das könnte jetzt jahrzehntelang so weiter gehen wenn er ihr nicht selbst so klar gesagt hätte, dass er so nicht existieren wolle.

Vor gut einem Jahren war die Verzweiflung von Frau Nicht am größten. Eben erst war es ihr gelungen, zwei verantwortungsvolle Ärzte zu finden, die kompetent und bereit waren, das Sterben-Lassen ihres Sohnes palliativmedizinisch zu begleiten: Ein Hausarzt zusammen mit einem Krankenhausarzt Dr. Michael de Ridder. Dieser war ihr u. a. vom Humanistischen Verband empfohlen worden, an den sich Frau Nicht hilfesuchend gewendet hatte.

Doch wenige Tage vor dem verabredeten Zeitpunkt zum Ernährungsverzicht entzieht ihr der zuständige Amtsrichter Thurm die Betreuung. Der Richter den sie auch später nie zu Gesicht bekommen sollte ließ den Sohn abholen und in ein Pflegeheim bringen.

Dort besucht Frau Nicht ihren Sohn nun jeden Tag. Sie wird allenfalls geduldet, Besuchsrechte hat sie keine, Misstrauen wird ihr entgegengebracht. Schon am zweiten Tag kommt eine Mitarbeiterin auf sie zu: Alexander könne sich jetzt schon selbst das Fernsehprogramm aussuchen, indem er mit den Zähnen knirscht. Frau Nicht ist fassungslos. Vielleicht, meint sie, müsse man, wenn man nur bewusstlose Patienten pflegt, an so etwas glauben.

Der Alptraum endet erst, nachdem im Verfahren vor dem Landgericht Berlin zum ersten Mal die Familie von Alexander und sein bester Freund als Zeugen angehört werden. Amtsrichter Thurm wird als befangen eingestuft, er hat nicht richtig gehandelt, das Landgericht setzt die Mutter wieder zur Betreuerin ein (LG Berlin im Beschluss vom 26.05.2006, Geschäfts.-Nr. 83 T 448/05 und 83 T 238 /06 Abl.) Die Verfahrenspflegerin schreibt, Frau Nicht habe unter den gegebenen Umständen etwas versucht zu initiieren, “was jeder andere Betreuer in gleicher Weise initiieren müsste.” Die Mutter verdiene “größte Anerkennung”.

Sie schafft es, weiter durchzuhalten. In ihrem nahen Umfeld stehen alle zu ihr. Professionelle Unterstützung erfährt sie durch einen Rechtsanwalt und durch eine Begleiterin des Humanistischen Verbandes. Diese zieht Frau Nicht, inzwischen selbst misstrauisch geworden, über all die Jahre hinweg immer wieder zu Rate und ins Vertrauen. Auch darüber, welche ambulanten Pflegekräfte von welchem Träger man denn noch ins Haus lassen sollte.

Beim Vormundschaftsgericht angezeigt worden war Frau Nicht nämlich von dem Leiterehepaar eines privaten Hauspflegedienstes, mit dem sie sich in einem fast freundschaftlichen Verhältnis wähnte. Ein Schock und eine maßlose Enttäuschung. Für diese ausschlaggebend war angeblich das Fernsehinterview eines Bundestagsabgeordneten, der angesichts des Falles Terri Schiavo im Fernsehen gesagt hatte: Die Ernährung abstellen, das gehe in Deutschland nicht und wäre Mord.

Gücklicherweise weiss es Dr. de Ridder besser, ist über die Rechtssituation aufgeklärt. Er ist in Berlin kein Unbekannter, leitet sehr engagiert die Rettungsstelle des Klinikums am Urban. In der Presse prangert er fortwährend die Verschwendung im Gesundheitswesen an der falschen Stelle und den Pflegenotstand bei den Alten an. Er hat die Leitung eines Pflegeheims wegen Vernachlässigung eines Bewohners verklagt, als erster deutscher Arzt Druckgeschwüre als Todesursache diagnostiziert. Er hatte Frau Nicht Hilfe zugesagt und steht dazu. Jetzt kommt er jeden Tag.

Es dauert vier Woche und fünf Tage nach Einstellung der künstlichen Ernährung, bis Alexander in den Armen seiner Mutter aufhört zu atmen. De Ridder hätte die Begleitmedikation höher einstellen können, um diesen für Außenstehende qualvoll langen Prozess zu verkürzen. “In der gleichen Situation würde ich es für mich selbst wünschen”, sagt de Ridder. Doch das wäre verbotene aktive direkte Sterbehilfe. In Deutschland erkennt die Medizin derzeit nur ein Ziel, welches eine tiefere Sedierung durch Morphium in Kombination mit Schlafmittel rechtfertigen würde: Wenn dies die einzige Möglichkeit wäre, unerträgliches Leid des Patienten zu lindern. Doch das ist bei Alexander nicht der Fall. Sein Sterben ist beinahe unmerklich langsam von statten gegangen.

Gita Neumann, Humanistischer Verband Deutschlands
mit zusätlichem Quellenmaterial des SPIEGEL, Nr. 46 vom 13.11.2006


Hausmeldung und einfühlsamer Bericht “Alexanders Abschied” im SPIEGEL von letzter Woche:
Alexander und seine Mutter wurden eineinhalb Jahre von der Spiegelredakteurin Lakotta sehr sensibel begleitet: Spiegel Wissen