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Der Fall Walter Jens

25. Feb 2009
"Der Vater, den ich kannte, ist lang schon gegangen."

Sohn Tilman Jens

 

" …Der Mittfünfziger wirkt erleichtert, lächelt dankbar. Mit Beifall hat
er nicht gerechnet, viel eher mit dem Gegenteil. Seit wenigen Tagen ist
ein Büchlein von ihm auf dem Markt – und einige Großfeuilletons der
Republik haben es augenblicklich in der Luft zerrissen. Dies ist seine
erste öffentliche Lesung. Auch in den Leserbriefspalten des Tübinger
Tagblatts kocht es, und die Osiandersche Buchhandlung, die den Abend
veranstaltet, sieht sich laut Geschäftsführer Riethmüller zornigsten
Anrufen ausgesetzt, etwa des Tonfalls: Ich betrete Ihre Buchhandlung
nie wieder!

 

 

"Vatermord" hat man dem Journalisten Tilman Jens vorgeworfen, und dass
er mit seinem Buch "Demenz – Abschied von meinem Vater" intimste
Familiengeschichten auf geschmacklose, verletzende, selbstgerechte
Weise an die Öffentlichkeit zerre, um einer Abrechnung mit dem Vater
und gar eines kommerziellen Erfolges willen.

Hier im Saal aber, der bis zum letzten Stuhl besetzt ist, kann der
anfangs nervös wirkende Vorleser, wenn er will, schon nach kurzer Zeit
Anflüge von Wohlwollen spüren. "Ich möchte Ihnen danken für den
liebevollen Blick auf Ihren Vater", bestätigt eine ältere Zuhörerin,
als er geendet hat. Und eine andere bekennt: "Ich bin total überrascht
von der Wärme und der Herzlichkeit Ihres Textes." Hat das deutsche
Großfeuilleton etwas falsch verstanden, kann es denn nicht lesen?

Das Schmunzeln von Inge Jens scheint genau das auszudrücken. Die
hagere, kerngesund wirkende 82-Jährige, Mutter von Tilman Jens und seit
58 Jahren Ehefrau von Walter Jens, sitzt in der ersten Reihe, schaut
zum Sohn auf, und lächelt immer wieder hintersinnig, als er liest.

Neben ihr ein starker Kontrast, eine korpulente, rotwangige jüngere
Frau, die ihre starken Arme verschränkt und ungerührt zur Kenntnis
nimmt, dass sie vom Vorleser immer wieder lobend erwähnt wird: Sie wird
dem Publikum als Margit Hespeler vorgestellt, Ende vierzig, Bäuerin aus
dem Umland – und seit einigen Monaten hauptberuflich Pflegerin von
Walter Jens.

Nur der an diesem Abend Omnipräsente ist nicht dabei. Glaubt man dem
Autor, dann vegetiert er in seinem Haus eineinhalb Kilometer von hier,
in einem Zustand von Dämmerung, Infantilität und unberechenbarem
Bewegungsdrang. Der brillante, streitbare und publizitätsbewusste
Tübinger Rhetorikprofessor Walter Jens – jahrzehntelang eine Instanz im
deutschen Geistesleben – ist seit Jahren unheilbar demenzkrank. "Sein
Verstand ist erloschen", schreibt sein Sohn. "Der Vater, den ich
kannte, ist lang schon gegangen."

Aber Tilman Jens belässt es nicht bei solchen summarischen Sätzen, das
ist einer der Gründe, warum sein Buch ein so zorniges Echo auslöst. Er
schildert vielmehr haarklein einen langen, quälenden häuslichen Alltag
voller Horror, Nächte mit Versuchen, einen Herumgeisternden wieder
einzufangen und dem Wechseln stinkender Windeln, dem intellektuellen
Totalausfall eines früheren Eloquenzgenies – und von Aggression:
"Manchmal aber wird er wütend. Er ballt die Fäuste. Er schreit, haut,
spuckt um sich. Wenn er trifft, hat meine Mutter am nächsten Morgen
blaue Flecken. Mit über 80 ist auch sie eine Frau, die geschlagen wird.
Häusliche Gewalt steht am Ende dieser Vorzeige-Ehe."

Muss das sein? Weiß die interessierte deutsche Öffentlichkeit nicht
genug darüber, was Demenzkrankheiten an ihren Opfern anrichten? Was ist
der Sinn, solche tragischen, pathologischen Verhaltensweisen vor den
Lesern auszubreiten? Und wie steht es um die Würde desjenigen, dessen
Verhalten da geschildert wird, ohne dass er zu einer Veröffentlichung
noch Ja oder Nein sagen könnte? "Er selber hätte das gutgeheißen",
versichert Inge Jens anschließend in kleinem Kreis, "er selbst hat nie
gekniffen."

Im Grunde war ja sie es, die den Tabubruch begangen hat, nicht ihr Sohn
– nämlich als Inge Jens, selbst eine Intellektuelle und geschliffene
Rednerin, vor knapp einem Jahr der Illustrierten Stern ein Interview
gab, das man schonungslos nennen kann. Darin schildert sie, was mit
ihrem Mann, der immer noch viel Fanpost erhalten habe, eigentlich seit
langem los war. "Ich glaubte, das den Leuten mitteilen zu müssen",
begründet sie den Schritt heute, "wir haben 50 Jahre lang der
Öffentlichkeit Rede und Antwort gestanden. " Das Gespräch gipfelte
damals in den Sätzen: "Er ist nicht mehr mein Mann", und, "ich bete,
dass er eines Morgens einfach nicht mehr aufwacht."

Walter Jens selbst hat den Gedanken an den Tod und daran, wie man ihn
im Notfall selbst herbeiholen dürfen sollte, nicht gescheut. Zusammen
mit seinem Freund und Tübinger Nachbarn Hans Küng (80), dem
eigensinnigen Theologen, hat Jens ein Plädoyer für aktive Sterbehilfe
gehalten. Ihr Buch "Menschenwürdig sterben" kommt nächste Woche neu
heraus – mit einem Nachwort von Inge Jens. Walter Jens selbst sprach
vor Jahren selbst die Hoffnung aus, dass ihm ein couragierter Arzt
helfe, wenn er einen Zustand erreicht, den man nicht mehr als
menschliches Leben bezeichnen kann.

Aber wann ist dieser Zustand erreicht, und was würde der Kranke, was
würde Walter Jens jetzt wollen, wenn er sich so sieht? Zu den
eindrucksvollsten Passagen im Buch von Tilman Jens gehört das Protokoll
der innerfamiliären Debatten in der Familie über diese Fragen – samt
dem Eingeständnis ihres Scheiterns: "Wir wissen es nicht. Wir haben
kein Mandat, einen schwerkranken Mann aus der Welt zu schaffen."

Der zweite Grund des Zorns aber, der Tilman Jens jetzt trifft, ist eine
Unterstellung: Der Vater habe sich quasi mithilfe der Demenz geweigert,
sich seiner Rolle in der Nazizeit zu erinnern. 2003 war eine
Karteikarte publik geworden, nach der – ähnlich dem Fall Grass – auch
der gestandene Linksintellektuelle und Antifaschist Jens früher
NSDAP-Mitglied war. Er selbst schwor in einer wenig souveränen
Verteidigung damals, er könne sich an nichts erinnern. Seine Frau ist
überzeugt: "Er hat damals so unter seinem Niveau argumentiert, weil er
bereits krank war." Tilman Jens dagegen unterstellt – und er widmet
diesem Thema verdächtig viele Seiten in dem schmalen Buch – der Vater
habe sich in die Krankheit sozusagen geflüchtet – medizinisch ein
Unding.

Ob der Sohn angesichts eines plötzlich bekannt werdenden moralischen
Fehlers seines brillanten Übervaters nicht auch ein Triumphgefühl
gehabt habe, wird der Vorleser in Tübingen gefragt. Und hier wird
Tilman Jens zum ersten und einzigen Mal richtig laut: "Nein, nein,
nein", ruft er und beteuert: "Nicht jeder Sohn eines Prominenten trägt
einen ödipalen Konflikt mit sich herum." Seit Sigmund Freud aber weiß
man: Auch die Lautstärke eines Dementis verrät etwas über dessen
Qualität."

Quelle:

http://www.badische-zeitung.de/nachrichten/deutschland/walter-jens-nachruf-auf-einen-lebenden

 


 

25.2.09:

http://www.mdr.de/artour/6147403.html