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PD Dr. Strätling: Stellungnahme zum Gesetzentwurf von Borasio, Jox, Taupitz, Wiesing

20. Sep 2014

Stellungnahme und "Fakten-Check“ zum Gesetzentwurf "Regelung des assistierten Suizids" der Arbeitsgruppe Prof. Borasio et al.1

Von PD. Dr. Meinolfus W. M. Strätling

Hintergrund: Die aktuelle Debatte zur Regelung des begleiteten oder assistierten Freitods bei schweren Leidenszuständen wird dominiert von „Verbotsinitiativen“ und „Minderheitenvoten“. Diese fallen weit hinter bereits geltendes und bewährtes Recht zurück: Im Ergebnis schränken sie die Rechte von Patienten und Sterbenden ein. Sie reduzieren die Rechtssicherheit von Ärzten und anderen Helfenden. Sie erschweren einen verantwortungsvollen, differenzierten und selbstbestimmten Umgang mit Sterbehilfebegehren, die oft sehr verständlich sind.2

Aktueller Anlass: Innerhalb des Spektrums der bisherigen Debatte waren die Mitglieder des Teams um Prof. Borasio bisher eher mit relativ „verständnisvollen“ und „liberalen“ Stellungnahmen in Erscheinung getreten.

Umso bemerkenswerter ist, dass ihr Vorschlag jetzt sogar noch weiter hinter bestehendes Recht zurückfällt, als der bisher weitreichendste und schärfste „Verbotsentwurf“ der Dt. Stiftung Patintenschutz.3 In  Kombination mit den vollkommen entgegengesetzten Absichtserklärungen der Autoren ist dieser Befund bezeichnend für eine oft mangelhafte Plausibilität der Debatte.

Zur Illustration wird hier das Ergebnis eines weiteren „Fakten-Checks“ vorgelegt. Dazu wurde der Vorschlag von Prof. Borasio et al. verglichen: Einerseits mit der bereits bestehenden Rechtslage in Deutschland; andererseits mit dem bisher schärfsten Verbotsentwurf (dessen Eignung als realitätsbezogene Diskussionsgrundlage für eine Regelung der Suizidhilfe wurde bereits zuvor umfangreich diskutiert und nachhaltig in Zweifel gezogen, vgl.: Fn. 2).

Schlussfolgerungen:
1. Die praktischen Auswirkungen des Gesetzentwurfs von Borasio et al. wären – würden sie jemals Gesetz – verheerend für die Rechtssicherheit aller Beteiligten und für einen differenzierten und verantwortungsbewussten Umgang mit Selbstbestimmung am Lebensende in einer pluralistischen, liberalen Gesellschaft.

2. In Kombination mit den vollkommen entgegengesetzten Absichtserklärungen der Autoren ist dieser Befund symptomatisch für einen Mangel an sachlicher Plausibilität großer Teile der bisherigen Debatte: Ausnahmslos alle bisher unterbreiteten Vorschläge wurden bereits in der Vergangenheit ausführlich und wiederholt erörtert und analysiert. Sie wurden alle letztlich verworfen: Es gibt viele überzeugende und belastbare Argumente, warum die bisherige Rechtslage in Deutschland bereits so ist, wie sie ist (Vgl. Fn.2). Eine Diskussion unter der Vorgabe, hinter bereits geltendes Recht, errungene Patientenrechte und umsichtig bewahrte, allgemeine Rechtssicherheit zurückzufallen, sollte sich also eigentlich weitegehend erübrigen. Dies gilt umso mehr, als die Ausräumung noch bestehenden „Praxisprobleme“ mit nur noch minimalem Aufwand möglich ist, sofern die bereits bestehende und bewährte Rechtsordnung erhalten bleibt.4

3. Mit Blick auf die aktuelle Gesamtentwicklung der Debatte scheinen sich damit Indizien zu verdichten, dass rechts- und gesellschaftspolitisch z.T. andere Ziele und Strategien verfolgt werden, als öffentlich behauptet. Auf Dauer dürfte solches – sollte es sich im Trend bestätigen und verfestigen – auch der Glaubwürdigkeit des Diskurses insgesamt wenig zuträglich sein.

4. Der Vorschlag von Borasio et al. dürfte (z.B. schon aus verfassungsrechtlichen Gründen) noch sehr viel weniger als Regelungsmöglichkeit in Betracht kommen, als die in den vorangegangenen „Fakten-Checks“ bereits überprüften Entwürfe.

 

 

Fakten-Check“ III:
Der Gesetzesentwurf der Arbeitsgruppe Prof. Borasio et al.

(Vergleichsgrundlage: Bestehende Rechtslage zur Suizidhilfe in Deutschland)

 

Kriterium Status ( Legende: Kriterium erfüllt: +. Kriterium nicht erfüllt:)

 

  1. Allgemein: Wahrung bereits bestehenden / bewährten Rechts: 

  2. Patient: Wahrung bestehender Rechte / Rechtssicherheit:       

  3. Angehörige, Ärzte, andere Helfende: Wahrung bestehender     
    Rechtssicherheit, insbesondere im Sinne einer möglichst
    differenzierten, verantwortungsbewussten, kompetenten
    Begleitung der Sterbewilligen

  4. Wahrung von weltanschaulichem Pluralismus / Duldsamkeit:  

  5. Gesellschaftspolitische Mehrheitsverhältnisse / Mandat:         

  6. Ermöglichung einer würdevollen Durchführung                         / +
    eines etwaigen Freitodes bei schweren Leidenszuständen /
    Minimierung denkbarer „Kollateralschäden“

  7. Wer wird ggfs. „bestraft“ („Kommt ggf. ins Gefängnis“ / muss sich zumindest mit hoher Wahrscheinlichkeit belastenden Ermittlungsverfahren stellen):

 a) Obligatorisch: Alle nicht-ärztlichen Berufsgruppen, Pflegende oder sonstigen Helfer; unbeachtlich ihrer Leistungserbringung, Motivation, Qualifikation, Kompetenz, Organisationsformen etc.

 b) Potenziell: Nicht-Blutsverwandte, deren aktueller / tatsächlicher Status als „Angehörige“ / „nahestehende Person“ unklar sein könnten (z.B. Mitbewohner in Altenheimen; (nicht-blutsverwandte) „Angehörige“ aus früheren Teil-, Rest-, Patchwork-Familienkonstellationen; weit verstreuter Freundeskreis).

 c) Potenziell: Ärzte, wenn diese (bewusst oder versehentlich) gegen [z.B. über- oder fehl-regulierte) Ausführungsbestimmungen verstoßen; oder gegen (i.A. ausgesprochen unspezifische) Kriterien; oder „Interpretationen“ derselben; wenn sie weitere (nicht-ärztliche) Leistungen anfordern, autorisieren, delegieren oder dulden, welche im zeitlichen / tatbestandlichen Umfeld der Suizidbegehung von anderen Professionellen / Nicht-Angehörigen erbracht werden (z.B. Beistand / Beratung durch Pflegende, Psychologen, Seelsorger).

 d) Potenziell: Alle, die umfangreicherer Informationen und Beratungen bzgl. Suizidhilfe anbieten, welche als „grob anstößig“ oder „Werbung“ ausgelegt werden könnten; z.B. um für vertieftes Interesse / Problembewusstsein, für die Bereitstellung und den Erwerb von diesbezüglichen (Spezial)-Qualifikation und Sachkompetenz, für Aus- und Weiterbildung, für kollegiale und inter-professionelle Konsultationen, für bejahendes Verständnis oder auch für die Bildung von für solche Zwecke geeigneten Organisationen zu werben (z.B. Fachgesellschaften, Fachverbände, Vereine).

 e) Wer bei der Suizidhilfe die Notlage der Betroffenen missbräuchlich ausnutzt, insbesondere um sich zu bereichern oder um Druck auszuüben („gewerbsmäßige“ Suizidhilfe: Unverändert / wie bisher)

 

Ergänzende Erläuterungen / Kommentare (Auswahl):

(Vergleichsgrundlagen: Bestehende Rechtslage zur Suizidhilfe in Deutschland, Verbotsentwurf der „Deutschen Stiftung Patientenschutz“)

ad 1.:

Strafbarkeitsforderung: Aus einer Vielzahl von überzeugenden, bereits umfassend dargestellten Gründen ist die Suizidhilfe in Deutschland bisher grundsätzlich (!) straflos (!). Dem gegenüber soll sie nach Auffassung von Borasio et al. zukünftig grundsätzlich verboten und strafbar sein. Dies stellt also schon einmal einen grundsätzlichen, massiven Rückfall hinter geltendes Recht dar. Die Folgen für die allgemeine Rechtssicherheit, den allgemeinen Rechtsfrieden sowie für eine differenzierte, pluralistisch-duldsame Befriedung der gesellschaftspolitischen Debatte insgesamt wären absehbar verheerend (s.u.).

Vor diesem Hintergrund ist diese Forderung der Autoren im interdisziplinären Diskurs zunächst einmal eine eher „extreme“ Minderheitenposition. Sie wird in Deutschland kaum noch ernsthaft vertreten5 – und dort eigentlich auch nur in einem eher einseitigen, ideologisch-weltanschaulichen Kontext. Überzeugend zeigt sich dies z.B. darin, dass sogar der o.g., bisher „schärfste Verbotsentwurf“ die grundsätzliche Straflosigkeit der Suizidhilfe als solche nicht mehr anzutasten wagt.

Vor diesem Hintergrund dürfte die Ursache für die Forderung der Gruppe um Prof. Borasio eine viel zu unkritische, weil weitgehend direkte „Übertragung“ des „Oregon Modells“ zur Suizidhilfe auf Deutschland sein.

Hintergrund: Aufgrund erheblicher Unterschiede in den Rechtstraditionen und der allgemeinen Rechtspraxis ist die Suizidhilfe in England und Wales tatsächlich im Grundsatz strafbar. Dies dominiert auch die Situation in den hiervon abstammenden Rechtssystemen, z.B. also auch im Anglo-Amerikanischen Bereich (und somit auch in Orgegon). In der Praxis bewährt sich dies insgesamt jedoch nicht. 6

Vielmehr sorgt dieser Umstand zunehmend für Probleme in der Praxis der Administration eines allgemeinen Rahmens oder „Handlungs-Korridors“. Dieser muss natürlich für die Betroffenen und Beteiligten selbst hinreichend verlässlich prognostizierbar sein – und damit sicher.

Tatsächlich sorgt der bei grundsätzlicher Strafbarkeit schon „systemimmanente“ Mangel an Rechtssicherheit „ex-ante“ im angelsächsischen Bereich für meist noch massivere Probleme, als hierzulande. Diese betreffen nicht nur die Patienten, sondern gerade auch die Praxis der Rechtspflege und der Medizin. Folglich wird inzwischen auch dort diskutiert, die grundsätzliche Strafbarkeit aufzugeben (und sich damit also eher der Dogmatik z.B. in Deutschland anzupassen, als umgekehrt – wie von Borasio et al. empfohlen).

Das letztlich nicht zu lösende Problem ist: Bei grundsätzlicher Strafbarkeit der Suizidhilfe müssen Ausnahmen definiert werden. Dies bedarf Kriterien. Diese müssen sachlich dem Regelungsziel angemessen sein; sie müssen hinreichend klar definier- und differenzierbar sein; sie dürfen im Ergebnis nicht zu Wertungswidersprüchen und Verunsicherung führen. Dies gilt insbesondere, wenn solche Widersprüchlichkeiten unter verfassungs- und persönlichkeitsrechtlichen Gesichtspunkten unverhältnismäßige Einschränkungen für „Teilkollektive“ der Betroffenen zur Folge hätten (z.B. Verstoß gegen Gebot der allgemeinen Rechtsgleichheit; unverhältnismäßige Eingriffe in das Selbstbestimmungsrecht etc.).

Erschwerend kommt hinzu, dass ausnahmslos alle in der bisherigen Diskussion erörterten Kriterien aufgrund plausibler, sachlicher Argumente durchaus umstritten sind. Ein relativ breiter Konsens besteht bei der Suizidhilfe in Bezug auf die Respektierung der i.A. „entscheidenden“ Rechtfertigungsgründe des Sterbewilligen: Die wohlerwogene Selbstverantwortlichkeit seiner Willensbildung und Entscheidung und ein (subjektiver, aber nachvollziehbarer) Leidenszustand. Akzeptiert ist auch, dass die „Tathoheit“ bei ihm selbst zu verbleiben hat (dass es sich also tatsächlich um eine „Selbsttötung“ handelt, nicht um eine „Tötung auf Verlangen“). Jenseits dieser „Schlüssel-Kriterien“ wird die Konsensbasis sehr schnell sehr schmal. Die sachliche Grundlage, diese „weiteren Kriterien“ dann sogar als verbindlich vorgeschriebene „Wirksamkeitserfordernisse“ nutzen zu wollen, ist damit argumentativ sehr, sehr brüchig und i.A. letztlich weder überzeugend, noch schlüssig.

Gesellschaftspolitisch zusätzlich kompliziert wird dieser Umstand dadurch, dass die entsprechende Kriterien auch rechtshistorisch einen nicht ganz unverdienten „schlechten Ruf“ haben: Sie wurden alle schon in der Vergangenheit von „Sterbehilfegegnern“ lanciert, um hinter vorgeblich „liberalen“ Lösungen zur Suizidhilfe diese dann trotzdem faktisch zu verunmöglichen. Sie wurden auch alle schon zuvor ausgiebig diskutiert und letztlich verworfen. Wenn man für einen verantwortungsvoll-differenzierten und pluralistisch-duldsamen Umgang mit der Frage der Suizidhilfe argumentiert, ist in Bezug auf solche (Über)-Regulierungen also ebenfalls schon primär Skepsis angebracht.

Im angelsächsischen Bereich manifestierte sich diese Problematik (und ihre letztliche Unauflösbarkeit) jüngst z.B. in folgendem Phänomen: In England und Wales ist Suizidhilfe strafbar. Ihre tatsächliche Strafverfolgung gilt grundsätzlich aber als eher „nicht im öffentlichen Interesse“. Dies führte dazu, dass die Generalstaatsanwaltschaft (Crown Prosecution Service) gerichtlich verurteilt wurde, Leitlinien zu veröffentlichen. In diesen sollte für die Patienten, Angehörigen, Helfenden und Behörden klar gestellt werden, wann ermittelt oder gar strafverfolgt wird und wann nicht.7 Das Ergebnis ist „sperrig“, z.T. widersprüchlich, inhaltlich hoch umstritten und letztlich wenig hilfreich. Es besagt auch nur, dass bei Vorliegen der Kriterien lediglich „die Wahrscheinlichkeit geringer ist“, dass strafrechtliche Ermittlungen oder gar weitere Konsequenzen folgen: „Rechtssicherheit“ sieht natürlich anders aus. Sie manifestiert und bewährt sich vor allem in der verlässlichen Vorhersehbarkeit der Konsequenzen („ex ante“).

Alle diese letztlich nicht auflösbaren Phänomene offenbaren sich auch im Regelungsvorschlag von Borasio et al. Als Gesetzgebung, die bewährtes und akzeptiertes Recht und Rechtssicherheit bewahrt und stärkt, kann er damit nicht in Betracht kommen.8

 

Weitere Begründungsversuche zugunsten grundsätzlicher Strafbarkeit:

Die übrigen Begründungsversuche von Borasio et al. decken sich in der Sache weitgehend mit denen, die in vorangegangenen Stellungnahmen erörtert wurden. Hierüber kann auch geradezu seitenweise „wohlmeinende“ Rhetorik nicht hinwegtäuschen. Wie bereits umfangreich ausgeführt und belegt (vgl. Fn. 2), sind damit auch diese Begründungsversuche fragwürdig:

Leider widerstehen auch Borasio et al. nicht der Versuchung, eine überwiegend religiös-konservativ verbrämte, objektiv aber fragwürdige „Palliativideologie“ mit den Sanktionsmitteln des Strafrechts durchsetzen zu wollen.

Bei dem Versuch, eine gesetzliche Regelung für berufspolitische Interessen zu instrumentalisieren, gehen Borasio et al. ebenfalls nochmals deutlich über die vorangegangenen „Verbotsinitiativen“ hinaus: Beispielsweise schreiben sie sogar in den Gesetzestext selbst einen weitgehenden „Korrekturvorbehalt“ für die Palliativmedizin hinein. Tatsächlich dürfte außer Frage stehen, dass in Bezug auf Suizid und Suizidhilfe i.A. fachpsychologische, ggf. psychiatrische und pflegerische Interventionen sehr viel wichtiger sind, als i.e.S. „palliativmedizinische“. Vor allem aber auch das Faktum, dass sie nicht-ärztliche Suizidhilfe ausdrücklich untersagen, dürfte verständlicherweise in anderen helfenden Berufsgruppen sowie bei Patienten und Angehörigen kaum „gut ankommen“: Nicht zuletzt führt dieser Vorschlag den (objektiv ohnedies fragwürdigen) Anspruch der Palliativmedizin auf „total care“ ad absurdum, weil er natürlich die hierfür zwingend notwendige Einbeziehung anderer Berufsgruppen untergräbt.

Soweit Borasio et al. mit empirischen Befunden argumentieren, scheinen die verwandten Rohdaten – soweit bisher ersichtlich – zutreffend referiert. In Bezug auf eine differenzierte Darstellung und Interpretation derselben bestehen allerdings ernste Defizite. Auf dieser Basis treffen die Autoren etliche empirische Aussagen und Schlussfolgerungen, die sachlich bestenfalls fragwürdig sind und z.T. methodisch unzulässig. Auf Grundlage der exakt gleichen Daten gelangt beispielsweise der hier erwidernde Experte (aber auch viele andere Autoren) zu deutlich differenzierteren und oft sogar vollkommen entgegengesetzten Schlussfolgerungen. Diese lassen z.B. die „Leistungsbilanz“ der Palliativmedizin in einem deutlich kritischerem Lichte erscheinen. Sie widerlegen oder relativieren alle der immer wieder perpetuierten „Standardargumente“ der „Sterbehilfegegner“.9 Insbesondere das sog. „slippery slope“ („Schiefe-Ebene“)-Argument gehört zu denjenigen, die aus empirischer Sicht kaum überzeugend belegt werden können. Dass Borasio et al. dann aber eilfertig und wiederholt gerade dieses Argument „bedienen“, stellt die Glaubwürdigkeit ihrer Argumentation infrage.10

 

ad 2.: Patientenrechte: Der Entwurf von Borasio et al. schränkt in erheblichen Umfang bisher bestehende Recht und die Rechtssicherheit von Patienten ein: Ihr Zugang zu tatsächlich kompetenter / differenzierter / angemessener Information (Werbeverbot), Beratung sowie zu nicht-ärztlicher Hilfe und Beistand (z.B. durch Pflegende, Psychologen, Seelsorger) wird nahezu unmöglich. Dies führt unvermeidbar zu erheblichen Versorgungslücken und auch grundrechtsrelevanten Einschränkungen. Auch die Rechte bestimmter Patientenkollektive werden ausdrücklich eingeschränkt.11

ad 3.: Rechte und Rechtssicherheit für alle (!!) Helfenden werden massiv eingeschränkt (Vgl. zunächst: 7a, c, d).
Besonders bizarr: Obwohl Borasio et al. nur ärztliche Suizidhilfe zulassen wollen, wird auch deren Rechtssicherheit unterminiert: Soweit diese im weiterem Umfeld eines assistierten Suizids Leistungen anfordern, autorisieren, delegieren oder dulden, welche von anderen Professionellen / Nicht-Angehörigen erbracht werden sollen (z.B. Beistand / Beratung durch Pflegende, Psychologen, Seelsorger), kann dies als „Anstiftung“ zu bzw. „Begünstigung“ einer Straftat ausgelegt werden. Angesichts der „besonderen anthropologischen Situation“ zwischen ihnen dürfte von den meisten Ärzten und Patienten übereinstimmend auch ein verpflichtend vorgeschriebenes „Zweitgutachten“ eher als „Bevormundung“ und als unverhältnismäßiger
12 Eingriff in die auch rechtlich besonders geschützte Arzt-Patient Beziehung aufgefasst werden.

ad 6.: Der einzig positive Aspekt des Entwurfs von Borasio et al. ist, dass er im Grundsatz den regulierten Zugang zu einer Substanz ermöglicht, die einen selbstverantworteten Freitod unter weitgehender Vermeidung unerwünschter „Kollateralschäden“ und entwürdigender Rahmenbedingungen ermöglicht. Mit der empfohlenen Substanz liegen relativ viele Erfahrungen vor – sie scheint sich zu bewähren. Dieser positive Effekt wird jedoch dadurch zunichte gemacht, dass ansonsten jegliche Rechtssicherheit für etwaige Helfer aufgehoben wird. Insgesamt ist damit also sicher nicht eine durchgreifende Verbesserung gegenüber der bestehenden Rechtslage anzunehmen.

ad 7.: Ungeeignet sind auch die Formulierungen von Borsio et al. in Bezug auf sog. „grobe Anstößigkeit“ und „Werbung“ bei der Suizidhilfe: Auch diese führen zu „Gummiparagraphen“, die problemlos als „Gummiknüppel“ gegen die andersdenkende Mehrheit gebraucht werden könnten. Die Formulierungen korrelieren auch weitgehend mit denen im Entwurf der „Deutschen Stiftung Patientenschutz“: Dort wird beispielsweise von einer angeblichen, „grundsätzlichen Gemeinschaftsschädlichkeit“ und „Missbilligungsbedürftigkeit“ der Suizidhilfe gesprochen. Die Zielsetzung ist in beiden Fällen letztlich die gleiche: Das Verunmöglichen einer tatsächlich differenzierten, sachkompetent begleiteten und hierzu z.T. auch „organisierten“ Suizidhilfe.13
Das Verbot für sog. „Werbung“ wird darüber hinaus auch mit der Vorgabe kollidieren, in nachgeordneten Rechtsnormen weitere Kriterien für die Umsetzung der Suizidhilfe zu definieren: Auch hierzu bedarf es natürlich bestimmter Qualifikationen, Kompetenzen, Aus- und Weiterbildung, Erfahrungsaustausch, Supervision, Quälitätssicherung u.a.m. Auch dies setzt damit Organisationsformen voraus (z.B. also Expertengruppen, Fachgesellschaften, Verbände, Vereine) und öffentlichen Informationsaustausch („Werbung“) – denen man aber leider zuvor im gleichen Gesetz jegliche Rechtssicherheit genommen hat.

Fazit: Auch der Entwurf der Arbeitsgruppe um Prof. Borasio bringt in Bezug auf kein einziges Kriterium eine wirkliche Verbesserung gegenüber der bisherigen Rechtslage. Im Gegenteil: In allen Bereichen führt er zu – überwiegend sogar drastischen – Verschlechterungen. Diese gehen in vielen Bereichen sogar noch über diejenigen der vorangegangenen Entwürfe hinaus. Damit ist er im Gesamtergebnis von allen bisher vorgeschlagenen Entwürfen derjenige, der objektiv am allerwenigsten als zielführende Lösungsmöglichkeit in Frage kommen kann.

 

Priv. Doz. Dr. med. Meinolfus W.M. Stätling

 

Fußnoten:

 

1 Borasio, Gian Domenico, Jox, Ralf, Taupitz, Jochen, Wiesing, Urban: Selbstbestimmung im Sterben – Fürsorge zum Leben: Ein Gesetzesvorschlag zur Regelung des assistierten Suizids, Kohlhammer, Stuttgart, 2014 

2 Ausführliche Begründungen / Hintergründe: Meinolfus Strätling, Beate Sedemund-Adib; Strafrechtliches Verbot der ärztlich assistierten, „organisierten“, oder „geschäftsmäßigen“ Suizidbeihilfe bei schwersten Leidenszuständen ? Die aktuelle Gesetzgebungsinitiative zur „Sterbehilfe“ in Deutschland: Eine kritische Analyse, Diskussion und Rechtsfolgenabwägung aus medizinischer und ethischer Sicht (Bearbeitungsstand: August 2014). Siehe http://assist_suizid_stellungnahme_straetling_et_al.pdf

3 Gesetzentwurf der „Deutschen Stiftung Patientenschutz“ (ehemals: „Deutsche Hospizstiftung“): Augsberg S., Brysch E., Entwurf eines Gesetzes zur Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung (8. Mai 2014): https://www.stiftung-patientenschutz.de (Zugriff: Juli 2014).

4 Hinweis auf Erklärung zu Aktueller Rechtslage

5 Exemplarisch: Tolmein, Lebensforum (Sonderausgabe, März 2013): 14 -18 (http://www.alfa-ev.de/presse-publikationen/lebensfor¬um/lebens¬forum-2013/#c1018) (Zugriff: Juli 2014)

6 An diesem grundsätzlichen Befund ändert auch das vorgeschlagene „Musterbeispiel“ des „Oregon-Modells“ nichts: Innerhalb des angelsächsischen Rechtssystems insgesamt stellt es – zumindest bisher – die einzige wirklich nennenswerte „Ausnahme-Erscheinung“ dar, in der nicht weitgehende „Ver-Unmöglichung“ und praktische „Dys-Funktionalität“ dominiert. Dies liegt jedoch mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gerade eben nicht an der dahinter stehenden, problematischen Rechtsdogmatik. Der einfache Grund dürfte vielmehr sein, dass in Oregon tatsächlich unter Auflagen eine für Suizidhilfe besonders geeignete Substanz zur Verfügung gestellt wird. Dieser sehr pragmatische „Umsetzungsaspekt“ des „Oregon-Modells“ (aber auch nur dieser) ist tatsächlich beispielgebend und zur Nachahmung in Deutschland zu empfehlen. Bemerkenswert ist weiterhin, dass – wie Borasio et al. zutreffend referieren – die ersten Daten aus Oregon eher überraschend gering sind. Nach allen bisherigen, internationalen Erfahrungen legt dieser Befund allerdings eher nahe, dass die etablierte Regelung von vielen Betroffenen und Beteiligten eher (aus welchen Gründen und mit welchen Methoden auch immer) „umgangen“ wird – und keineswegs, dass sie bereits besonders gut funktioniert. Auch vor diesem Hintergrund ist also eine unkritische Empfehlung, in Deutschland das „Oregon-Modell“ fast 1:1 zu „kopieren“, im günstigsten Falle voreilig.

7 The Director of Public Prosecutions (edit.), Policy for Prosecutors in Respect of Cases of Encouraging or Assisting Suicide: http://www.cps.gov.uk/publications/prosecution/assisted_suicide_policy.html (Issued: February 2010; Zugriff: August 2014).

8 Kritische Anmerkungen erscheinen im Übrigen auch angebracht in Bezug auf die exakte Definition bzw. Differenzierung des tatsächlichen Regelungsgegenstandes sowie dem dafür angemessenen Regelungsort: Durch einen pluralistischen Rechtsstaat wirklich „regelbar“ und regelungsbedürftig sind – angesichts der „Höchstpersönlichkeit“ des Freitodes und der Suizidbeihilfe – ja eigentlich nicht die Zulässigkeitskriterien dieser beiden Tatbestände an sich. Wirkliche relevant sind die Zulässigkeitskriterien für die ggf. kontrollierte Abgabe von für Suizid(hilfe) besonders geeigneten Substanzen / Verfahren: Hierfür besteht eindeutig ein legitimes, grundrechtsrelevantes Interesse der einzelnen Sterbewilligen sowie ein robustes „öffentliches Interesse“ der Gesellschaft insgesamt (z.B. zur Abwendung vermeidbarer und ansonsten drohender „Kollateralschäden“: Vgl. ausführlich: Fn. 2). Andererseits besteht diesbezüglich auch ein berechtigter Schutz- und Regulierungsanspruch des Staates (z.B. wg. denkbaren sonstigen Drogen-Missbrauchs etc.). Der angemessene Regelungsort für entsprechende Zulässigkeitskriterien ist somit das Arznei- bzw. Betäubungsmittelrecht und dessen weiteren Ausführungsbestimmungen – und eindeutig nicht das Strafrecht. Auch aus Gründen der praxisnahen Administration der Rechtslage durch die Rechtspflege und die Heilberufe empfiehlt es sich erfahrungsgemäß als sehr viel pragmatischer, entsprechendes eher in nachgeordneten – und somit leichter adaptierbaren – Rechtsnormen niederzulegen.

9 Vgl. ausführliche Literaturübersichten zu den Problemkomplexen des Suizids, der Suizidbeihilfe und der Sterbehilfe allgemein: Strätling, In: Neumann (Hrsg), Suizidhilfe als Herausforderung. 2. Auflage 2012 (Fn. 5): 82 – 132; Strätling, MedR (2012) 30: 283 – 289; 428 – 436.

10 Auch Borasio et al postulieren, durch ihren Gesetzesentwurf ein Bollwerk gegen einen angeblichen „sozialen Druck“ oder gegen die angeblich angestrebte Freigabe der „Tötung auf Verlangen“ zu errichten. Fakt ist: Nichts davon ist überhaupt Regelungs- oder auch nur ernsthafter Diskussionsgegenstand. Für den beschworenen Missbrauch der Suizidhilfe gibt es auch weder begründete Hinweise, geschweige denn Evidenz. Er wäre auch bereits jetzt verboten. Damit sind dies vollkommen unbelegte Unterstellungen. Diese offenbaren ein fragwürdiges Menschenbild insgesamt, gezeichnet durch einen ethisch und gesellschaftspolitisch hochproblematischen „anthropologischen Pessimismus“. Dass derartige Unterstellungen von der breiten Mehrheit der Bevölkerung, die in dieser Frage anders denkt, als diffamierend aufgefasst werden, kann nicht wirklich überraschen. Die unvermeidbare Folge: Eine eher weitere Eskalation und „Erbitterung“ der Kontroverse, die einem zielführenden Diskurs nicht zuträglich sein kann. Gerade weil die Autorengruppe um Prof. Borasio für sich eine besondere „medizinethische“ Kompetenz in Anspruch nimmt, erscheint ein derartiger Mangel an differenziertem Niveau und allgemeiner „Diskussionskultur“ enttäuschend, nur schwer nachvollziehbar – und deutlich zu kritisieren.

11 Besonders hervorstechend ist hier das intendierte Verbot der Suizidhilfe für sog. „gesunde Hochbetagte“: Schon die Wortwahl illustriert einen Mangel an Wissen um und Respekt vor der Lebenswirklichkeit hochbetagter und gebrechlicher Mitbürger. Deren breite Mehrheit wird eine derartige „Bevormundung“ sicher nicht akzeptieren. Auch die beabsichtigten Verbote von Suizidhilfe für Patienten mit schwersten psychischen Erkrankungen und bei minderjährigen jungen Erwachsenen sind sicher „gut gemeint“. Unstrittig ist, dass hier ganz besonders umsichtig zu agieren ist. Derart rigoros und grundsätzlich, wie von Borasio et al. gefordert, dürfte dies häufig jedoch objektiv-medizinischen, ethischen sowie verfassungs)rechtlichen Kriterien nicht standhalten. Hier ist vielmehr – wie auch sonst in diesen Szenarien bereits allgemein üblich, seit Jahrzehnten bewährt und faktisch alternativlos – die Entwicklung verantwortungsvoller Einzelfallentscheidungen angezeigt. Auch die übrigen Vorbedingungen, die Borasio et al. postulieren, sind unspezifisch und nicht wirklich objektivierbar: Dies führt im Ergebnis zu unauflösbaren Wertungswidersprüchen und Rechtsunsicherheiten: Wo beginnt beispielsweise eine zum Tode führende Unheilbarkeit? –wo eine „begrenzte Lebenserwartung“? Spielt „Lebensqualität“ keine Rolle? u.a.m.

12 Eine Zweitbegutachtung eines Sterbewillen erscheint lediglich „empfehlenswert“, insbesondere wenn der primär behandelnde Arzt begründete Zweifel an der Willensfähigkeit und der Willensbildung des Patienten hat (z.B. wenn er den Patienten erst sehr kurz kennt, oder dieser an psychischen oder neurologischen Erkrankungen leidet). Dies scheint in der Praxis selten zu sein. Evidenz positiver Effekte durch zusätzliche Routinegutachten existiert nicht.

13 Juristischer Fachbegriff: „geschäftsmäßige“ Suizidhilfe. Vorsicht: „Geschäftsmäßigkeit“ (im juristischen Sinne) hat nichts zu tun mit „Geschäftemacherei“ (im landläufigen Sinne). Der Begriff sollte also nicht verunsichern bzw. verwechselt werden mit einer „gewerbsmäßigen“, also „kommerziellen“ Suizidhilfe: Diese ist bereits verboten: vgl. 7e.