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Autonome Willensbildung als springender Punkt – ein Präzedenzfall

19. Jun 2023

Soll heutzutage jeder mental und körperlich gesunde oder nur leicht psychisch erkrankte Mensch zulässige Suizidhilfe in Anspruch nehmen dürfen, nicht aber der an einer schweren und therapieresistenten Depression unerträglich leidende? Einer solchen Patientin hat der Berliner Allgemeinmediziner Dr. T. beim Suizid geholfen, wurde angeklagt und muss sich demnächst in einem Strafprozess dafür verantworten.

Die Freiheit, sich das Leben zu nehmen, so urteilte das Bundesverfassungsgericht 2020, sei „als Akt autonomer Selbstbestimmung von Staat und Gesellschaft zu respektieren“. Sie umfasse „auch die Freiheit, hierfür bei Dritten Hilfe zu suchen und Hilfe, soweit sie angeboten wird, in Anspruch zu nehmen.“ Das gilt ausdrücklich auch für junge und/oder körperlich gesunde Menschen, was im Übrigen eine gesetzliche Neuregelung schwierig macht. 

Dr. T., Berliner Allgemeinmediziner im Ruhestand, hat diese Hilfe angeboten und nach eigenen Angaben in den letzten Jahren in rund 70 Fällen assistierten Suizid durchgeführt. Was aber, wenn der Todeswunsch nicht dem freien Willen entspringt, sondern Symptom einer schweren psychischen Erkrankung ist? Eben davon geht die Berliner Staatsanwaltschaft im Fall der 37-jährigen Frau R. aus. Ihr hatte Dr. T. 2021 eine zum schnellen Tod führende Infusion gelegt, welche die Suizidwillige dann selbst auslöste – wie es heutzutage in der Suizidhilfe verbreitet ist. 

Aufgrund aufwändiger Ermittlungen und Zeugenvernehmungen im Umfeld der Verstorbenen (darunter ihr behandelnder Psychotherapeut) wurde schließlich ein für die Staatsanwaltschaft gerichtsverwertbares Gutachten angefertigt. Darin wird festgestellt: „Die Kognitionen von Frau R. waren […] durch die Depression verzerrt und unterlagen nicht mehr der Willensbildung“. 

 

Statt erlaubter Suizidhilfe Anklage wegen Totschlags

Das ist der springende Punkt, wonach schon immer gemäß deutscher Rechtslage eine Straftat vorliegt: Aus der zulässigen Suizidhilfe wird dann ein „Totschlag in mittelbarer Täterschaft“, das heißt die sogenannte Tatherrschaft geht bei nicht freiwillensfähigem Suizid auf die assistierende bzw. begleitende Person über. Diese muss dann mit einer Gefängnisstrafe von mehreren Jahren rechnen. Der Prozess gegen Dr. T. vor dem Landgericht Berlin soll voraussichtlich im November 2023 eröffnet werden. Er sei „entschlossen, das durchzustehen, auch über mehrere Instanzen“, sagt er. In diesen müsse wohl „geklärt werden, inwieweit man Menschen mit psychischen Diagnosen eine freie Willensbildung zugesteht oder nicht.“ T. erhofft sich für einen solchen Präzedenzfall auch Spenden für seine Anwalts- und Gerichtskosten.

Laut Tagesspiegel-Background/Gesundheit vom 4. Mai 2023 sei es für die von Dr. T. in den Tod begleitete Frau, einer Studentin, wie die Staatsanwaltschaft erklärt habe, in einer akuten Phase von schwerer Depression nicht mehr möglich gewesen, einen freien Willen zu bilden. Ihr in dieser Phase geäußerte Wunsch, sterben zu wollen, sei „Teil des Krankheitsbildes einer Depression, was dem Arzt laut Anklage bewusst war.“ Die folgende Aussage der Staatsanwaltschaft mutet allerdings höchst spekulativ an: Dennoch habe Dr. T. die Frau sträflich in ihrer Ansicht „bestärkt“ (!), dass es keine weiteren zielführenden Therapiemöglichkeiten zur Verbesserung ihrer gesundheitlichen Situation mehr gebe. 

Das Landgericht Berlin sollte klarzustellen haben, dass es demgegenüber auch bei Suizidwunsch keine ärztliche Aufgabe sein kann, jemandem entgegen eigener Einsicht falsche Hoffnungen vorzugaukeln. Patient*innen haben bekanntlich selbst bei noch guter Aussicht auf Heilung, Linderung oder palliativer Symptomkontrolle das Recht, nach Aufklärung auch diese Möglichkeiten ungenutzt zu lassen bzw. jede weitere Behandlung zu verweigern.

Dr. T. schildert in der taz eindrücklich die jahrelange Depressions- und Leidensgeschichte von Frau R., sie habe ihm in einem langen Gespräch plausibel geschildert, sie könne einfach nicht mehr – nach 16 Jahren ständiger und erfolgloser Behandlung durch Medikamente und Psychotherapie sowie zuletzt mit Psychiatrieaufenthalt. T. will auf eine bisher ungelöste Problematik aufmerksam machen. Er fühlt sich juristisch und vor allem moralisch voll im Recht und hat im vorliegenden Fall angesichts des von ihm festgestellten Todes selbst die Polizei verständigt – wie bei organisierter ärztlicher Suizidhilfe geboten. 

Warum hat Dr. T. sich nicht vorher besser abgesichert und damit selbst schützen können? 


Kooperation mit Deutscher Gesellschaft für Humanes Sterben

In den Medien wurde der Hinweis in der Erklärung der Staatsanwaltschaft aufgegriffen, dass Dr. T. sich in einem Sterbehilfeverein engagiert. Er selbst erklärt in der taz, tatsächlich die meisten seiner Suizidbegleitungen „über die Vermittlung durch die Deutsche Gesellschaft für Humanes Sterben (DGHS) durchgeführt“ zu haben. In diesem Fall wäre diese allerdingst nicht beteiligt gewesen. Im selben taz-Beitrag zu dem Strafverfahren äußert sich der Präsident der DGHS, Robert Roßbruch: In Fällen von psychiatrischen Diagnosen würde Suizidhilfe durch die DGHS in der Regel „ausscheiden“. Im Zweifelsfall würden psychiatrische Gutachter hinzugezogen, um die „freie Entscheidungsfähigkeit“ des Suizidwilligen zu attestieren. „Man kann psychisch Kranken die Entscheidungsfähigkeit nicht so einfach absprechen,“ empört sich T., „das ist auch eine Diskriminierung“.  

Die Sterbehilfevereine nehmen für sich in Anspruch, nach eigenen bewährten Prinzipien die erforderliche Freiverantwortlichkeit, Wohlerwogenheit und Dauerhaftigkeit des Suizidwunsches zu überprüfen und zu dokumentieren. Ein Mitglied hat dazu einen als plausibel nachvollziehbaren Antrag auf Suizidhilfe zu stellen und sich Beratungs- und Aufklärungsgesprächen zu unterziehen. 

Offensichtlich ist eine neue Strafbarkeitsregelung jedenfalls nicht erforderlich. Doch bleiben offene Fragen: Könnten zur Suizidhilfe bereite Ärzt*innen in einer Patientenbeziehung – außerhalb der Sterbehilfevereine – durch einzuhaltende gesetzlich vorgegebene Kriterien besser abgesichert werden? Dazu soll nun, wie sie in einem aktuellen Gesetzentwurf zur Suizidhilfe vorgesehen ist, eine vorgeschaltete Pflichtberatung durch staatlich anerkannte Stellen beitragen. Deren Personal hat nicht die Aufgabe, die Freiverantwortlichkeit ihrer Klient*innen festzustellen, doch wäre im vorliegenden Fall die Dringlichkeit einer fachkundigen Begutachtung in der auszustellenden Bescheinigung erwähnt worden. Eine solche wäre von Patient*innen, die bei einem Arzt oder einer Ärztin um Suizidhilfe nachsuchen, an diese auszuhändigen. Aufgrund dessen können die Ärzt*innen dann selbstverantwortlich das weitere Vorgehen auf den Weg bringen.


Depression kein Ausschlusskriterium für Suizidhilfe 

Laut Stellungnahme des Deutschen Ethikrats von 2022 ist die Fähigkeit zur freiverantwortlichen Suizidentscheidung bei psychischen Störungen zumindest „nicht automatisch“ ausgeschlossen. Die Bewertung sei „vom Ausprägungsgrad der Erkrankung“ abhängig. 

Prof. Andreas Reif, Professor für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik ist besonders qualifiziert für die Begutachtung eingeschränkter Freiwillensfähigkeit – etwa für Gerichte. Im Tagesspiegel-Background/Gesundheit vom 10. Mai 2023 führt er dazu aus: „Etwa ein Drittel der Bevölkerung“ sei von unterschiedlichen psychischen Erkrankungen betroffen, „und natürlich ist der Großteil dieser Menschen“ willens- und einsichtsfähig. 

Entscheidend sei immer die Frage, ob sich die psychische Erkrankung erst bzw. nur im „aktuellen Zustand“, etwa einem Tiefpunkt der Verzweiflung und Selbstabwertung, darauf auswirkt, aus dem Leben scheiden zu wollen. Wenn sich ein Todeswunsch andererseits zum Beispiel zunächst aufgrund von körperlicher Erkrankung oder Altersgebrechlichkeit entwickelt habe und dann zunehmend „auch in der Depression fortbesteht, entspricht er dem freien, natürlichen Willen des Menschen“. Eine Rolle spielt dabei auch, ob eine Option zur Selbsttötung prinzipiell zur eigenen Lebensauffassung gehört. Dies kann etwa in einer Freitod- oder optimalen Patientenverfügung schon vorsorglich dokumentiert werden. 

Die Voraussetzungen freiverantwortlicher Suizidentscheidungen wären entsprechend zu präzisieren, wenn man der Verantwortungen verschiedener Akteur*innen im Kontext von Suizidhilfe und -prävention gerecht werden will. 



Autorin dieses Beitrags ist die Psychologin und Medizinethikerin Gita Neumann. Wenn Sie ihre Berichterstattung wertschätzen, können Sie eine anerkennende Zuwendung – gern mit einer persönlichen Nachricht an sie – hier direkt vornehmen: www.patientenverfuegung.de/spenden