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Leidvolle Übertherapie: Tägliche Realität auf Intensivstationen

10. Okt 2018

Dr. Matthias Thöns, Autor

Gita Neumann, Dipl.-Psych.
Redakteurin des Newsletters Patientenverfügung gita.neumann@humanismus.de

Intensivmedizinische Maßnahmen breiten sich rasant aus und werden zunehmend auf Patient_innengruppen ausgeweitet,  die davon nicht mehr profitieren. Abrechnungsoptimierte Beatmung ist an der Tagesordnung. Mittlerweile sind 75 % der Intensivpatient_innen im Rentenalter.

In jedem vierten Intensivbett liegt ein unheilbar Krebsbetroffener. Auch die Zahl der in der Häuslichkeit intensivmedizinisch behandelten Patient_innen steigt dramatisch. Diese lag 2003 bei 500 in ganz Deutschland, heute liegt sie mit wahrscheinlich etwa 40.000 Patien_innten bald 100 Mal höher. Vorausgegangen war die neue Regelung einer Vergütung mit 20.000 – 27.000 € pro Monat.

In den Kliniken gibt es ähnliche Fehlanreize: Die kleine Gruppe der „Langlieger“ (8 %, > 20 Tage) generiert dabei einen Großteil der Einnahmen. So fahren die Kliniken die größten Gewinne ein, die viele Komplikationen haben, Patient_innen mit den schlechtesten Aussichten operieren und vielfacherkrankte greise Patient_innen umfangreich intensivmedizinisch versorgen. Sprich: Extrem schlechte Medizin, das heißt kaum oder gar nicht mehr indizierte, sinnlose und auch gefährliche Medizin (wohingegen gute Palliativlinderung angesagt wäre) wird aktuell am besten vergütet.

Im Februar 2018 gab es den ersten europäischen Großkongress in Wien zur Problematik, die Expert_innen schätzen den Anteil der Übertherapie auf 50 %, „Übertherapie und Überdiagnostik seien tägliche Realität auf den meisten Intensivstationen.“

Schlechte Langzeitbeatmung wird am besten vergütet

Die Problematik beginnt bereits mit nicht notwendigen Intensivaufnahmen. Studien sprechen von bis zu 50 % Fehlaufnahmen. Unnötige Intensivaufnahmen führen zu 18 % mehr Todesfällen. Ohne erkennbares Therapieziel wird ein erschreckend hoher Prozentsatz selbst von schwerst Demenzbetroffenen intensivbehandelt und künstlich beatmet.

Immer ältere und kränkere Patient_innen werden langzeitbeatmet. Dabei gibt es die Besonderheit in der Gebührenordnung, dass Beatmungen bis 24 Stunden nicht vergütet werden. Wird jedoch eine Minute länger beatmet, kann bei bestimmten Diagnosen laut DRG-Berechungslegende ab 23.426 €  berechnet werden. Über diese unter Ärzt_innen auch „Beatmungshürde“ genannte 24. Stunde hinaus gibt es auffallende Häufungen. Beatmung ist gefährlich, daher gilt medizinisch eigentlich: je kürzer desto besser. Doch Tausende Patient_innen werden abrechnungsoptimiert länger beatmet. Dabei ist längst bekannt, dass etwa 60 % der älteren Patient_innen nach einer über zehn Tage langen Beatmung [DRG-Leistungslegende A11A: Für 249 Stunden 79.361 €] in naher Zeit versterben, von dem kleineren Teil der Überlebenden finden nur 12 % zurück in ihr altes Leben.

Immer mehr Schwerstpflegefälle als Folgeschäden

Dramatisch ist so die Zunahme von schwer geistig Behinderten oder Wachkomapatient_innen nach Intensivtherapie. So ist es mittlerweile Standard, bei bestimmten Schlaganfällen oder Hirnverletzungen Teile des Schädeldaches zu entfernen. Das Deutsche Ärzteblatt titelte zu der Operation: „Sterblichkeit halbiert“. Doch liest man die Originalstudie, so kommt einem das Schaudern: Richtig, die Sterblichkeit wurde durch die Notoperation von 48 % auf 26 % nahezu halbiert. Doch gegenüber den Nichtoperierten kam es dreimal häufiger zum bleibenden Wachkoma. Die Wahrscheinlichkeit zur Rückkehr in das alte Leben war dagegen in der Gruppe der Nichtoperierten um 42 % höher.

Der operative Eingriff sorgt also für weniger gesund Überlebende und für dramatisch mehr Schwerstpflegefälle.

Vor genau solchen Eingriffen fürchten sich ältere Menschen. 91 % von Ihnen würden einen Eingriff mit dem Risiko geistiger Behinderungen ablehnen. “Lieber tot als schwerbehindert davinvegetieren“ sagen fast alle. Ganz anders sehen dies deutsche Hirnchirurg_innen in einer Arbeit aus 2018: 85 % würden einen 82-Jährigen bei Hirnblutung, trotz schlechtester Aussichten (Überleben 9 %, Schwerbehinderung 98 % trotz OP) operieren. Mehrheitlich war den Ärzt_innen egal, ob die Patient_innen vorher bereits schwerpflegebedürftig waren oder was die Angehörigen wünschten.

Öffentliche Aufmerksamkeit für Leidensverlängerung wächst

Eine unangemessen eingreifende Therapie hat schlimme Folgen. Viele Venenkatheter, blutige Messungen, Bluttransfusionen, Beatmungen und Luftröhrenschnitte sind vermeidbar. Bestens erforscht sind die tragischen Konsequenzen von zu viel Beruhigungsmitteln: Ernste Verwirrungszustände, verlängerte Beatmung, Infektionen und Muskel-Nervenleiden sind die Folgen, die Sterblichkeit steigt. Unnötige oder zu lang dauernde Antibiotikagaben verursachen nicht nur Kosten, sondern führen zu Problemkeimen (MRSA-Seuche), teils mit unbehandelbarer Blutvergiftung. Intensivbehandlung ist leidvoll, häufig sind Schmerzen, Schlaflosigkeit, diverse Sonden, fehlende Selbstkontrolle und Fixierung. Überlebende haben im Anschluss häufig posttraumatische Streßsyndrome, welche sonst eher von Kriegs- und Terroropfern bekannt sind. 

Nicht zu vergessen ist das Leiden der betreuenden Angehörigen. Ein erschreckend hoher Anteil von ihnen leidet an Psychosyndromen. Die öffentliche Aufmerksamkeit zur Problematik steigt, kaum eine Woche vergeht ohne entsprechende Medienberichte.

„Leidensverlängerung“ durch intensivmedizinische Maßnahmen führte Ende 2017 erstmals zur Verurteilung eines Arztes. Das OLG München urteilte: „Die aus der schuldhaften Pflichtverletzung durch den Beklagten resultierende Leidensverlängerung des Patienten stellt einen ersatzfähigen Schaden dar.“ Dies betreffe laut Urteil widernatürliche Eingriffe in den normalen Verlauf des Lebens, zu dem auch das Sterben gehört. Der Schmerzensgeldanspruch gehe auf die Erben über.

Filmbeitrag  zum Münchner Fall und zur aktuellen Rechtssituation (SWR Odysso vom 15.03.2018).

Weitere Hintergrundinformationen im Buch „Patient ohne Verfügung“

 

 

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